DIE STADT DER BLINDEN
nach dem gleichnamigen Roman von José Saramago
adaptiert von Thomas Jonigk

Regie: Georg Paul Aichner


DAS STÜCK

“Die Stadt der Blinden“ ist auch deshalb ein so großartiger Roman, weil er bereits im Jahr 1995 veröffentlicht wurde. Wäre er im Laufe der letzten beiden Pandemiejahre geschrieben worden, müsste man auf die Idee kommen, dass jemand nicht als Literat, sondern einfach als Chronist Ereignisse, vor allem aber Verhaltensweisen von Menschen während einer Pandemie aufgeschrieben hätte. Dass José Saramago in einer vermeintlichen Überzeichnung der pandemischen Umstände der Wahrheit über unser Verhalten in dieser Ausnahmesituation so nahegekommen ist, spricht nicht für uns und unsere Gesellschaft. Dabei geht es weniger um das Herausbilden neuer Hierarchien, denn Gesetze wurden und werden hoffentlich weiterhin von demokratisch legitimierten Institutionen erarbeitet und umgesetzt, sondern darum, was Menschen mit Menschen machen, wenn sie sich überlegen fühlen, wenn es um den eigenen Vorteil, zum Teil ums Überleben, geht. Ohne zu werten, zeigt der Text, wie Menschlichkeit verloren gehen kann, wenn die Rahmenbedingungen für das Menschsein verändert werden. Und es sind beileibe nicht nur die verbrecherischen Täter im Stück, die Maß und Anstand im Umgang miteinander verloren haben. Die Banalität des Bösen zeigt sich viel subtiler, indem sich Menschen, die alle auf derselben Stufe stehen, versuchen, sich über andere zu erheben. Diese Aktualität spricht für diese szenische Fassung des Romans und dafür, dass sie das Kleine Theater Bruneck gerade zu dieser Zeit auf die Bühne bringt.